
Gut 80% der Halter von Hündinnen versprechen sich von einer Kastration ein geringeres Risiko von Gesäuge- und Gebärmuttertumoren – drei Vierter der Halter von Rüden glauben, dass sich das Verhalten ihres Vierbeiners (zum Besseren) ändert, wenn sie ihn kastrieren lassen. Kein Wunder, hat sich die Kastration beim Hund mittlerweile fast als Allerheilmittel in den Köpfen der Hundebesitzer verankert – irrtümlicherweise, muss man sagen.
Kastration beim Hund – ein emotionales Thema
Die Gesetzeslage ist nicht so klar, wie viele behaupten. Zwar ist es laut Paragraf 6 des Tierschutzgesetztes verboten, Organe zu amputieren: „Verboten ist das vollständige oder teilweise Amputieren von Körperteilen oder das vollständige oder teilweise Entnehmen oder Zerstören von Organen und Geweben eines Wirbeliteres.“ Soweit so klar – nur: das gilt nicht nach tierärztlicher Indikation und/oder wenn der Eingriff zum Schutz für das Tier vorgenommen wird. Ergo: Kastriert werden darf, wenn das Argument das Richtige ist. Deshalb wird ja auch der Schutz vor Krebs als Kriterium für die Kastration beim Hund vorgeschoben.
Kastration bei Hündinnen
Bei Hündinnen ist die Hormonsituation eine etwas andere als bei Rüden: Auch Weibchen haben natürlich die beiden Hormone Testosteron und Östrogen – der „Gegenspieler“ der für das sanftere Wesen verantworlich ist. Entfernt man nun die Eierstöcke, so entfernt man auch den Hauptproduzenten des Östrogens, die Gefahr, dass die Hündin nach der Kastration deutlich aggressiver auftritt ist deshalb nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich. Je nach Zeitpunkt der Kastration und des momentanen Hormonspiegels kann diese Veränderung stärker oder schwächer auftreten. Zudem gibt es noch so genannte „Rüdinnen“ – Weibchen, die im Mutterleib mit vielen Brüdern heranwuchsen und deshalb unter ständigem Testosteroneinfluss standen – bei ihnen ist die Kastration nicht nur sinnlos, sondern kontraproduktiv.
Kastration beim Hund schafft mehr Probleme als sie löst.
Tatsächlich scheint eine Kastration das Risiko eines Gesäugetumors oder einer Gebärmutterentzündung zu mindern – was ja auch logisch ist, denn eine entfernte Gebärmutter kann sich nicht mehr entzünden. Allerdings wiegen die Risiken für die Hündin schwer. So steigt die Gefahr der Inkontinenz bei Hündinnen stark an (bei Boxern bis auf 65%), zudem vermindert sich der Energiebedarf nach einer Kastration, nicht aber der Appetit. Folge: Der Hund wird dick oder aber die Brieftasche des Hundebesitzers dünn, weil er Diätfutter kauft – oder aber der Hund beginnt alles und jedes zu fressen, wenn er draussen frei rumläuft (und wird dann prompt krank oder holt sich noch mehr Würmer). Testosteron wirkt zudem stützend auf das Bindegewebe – kastrierte Hunde wirken deshalb oft viel älter, sie laufen schlaksig, sind anfälliger für Erkrankungen des Gelenkapparates, entwickeln eine HD und können früher dement werden. In letzter Zeit wird zudem die Kastration vermehrt in Zusammenhang mit der Magendrehung gebracht – allerdings steht hier der Beweis noch aus.
Auf jeden Fall sollte man keine Hündin vor der dritten Läufigkeit kastrieren – dann erst ist der Hormonhaushalt ausgebildet. Frühkastration führt oft zu einer Verkindlichung des Wesens und zu einem noch stärkeren Riskio des Harntröpfelns.
Sind kastrierte Rüden friedlicher?
Nicht zwingend – oftmals ist sogar das Gegenteil der Fall. Ein intakter Rüde ist selbstbewusst und sein Hormonhaushalt regelt sich auch in Extremsituationen selber. Das Stresshormon Cortisol wird zum Beispiel vom Testosteron im Zaum gehalten. Wenn nun ein Hund angstaggressiv ist, dann wird sich das Problem nach der Kastration noch verschlimmern. Rüden mit wenig Selbstbewusstsein attackieren nach einer Kastration möglicherweise „grundlos“ Artgenossen oder sacken bei deren Anblick wie ein Häufchen Elend in sich zusammen. Wer immer eine Kastration seines Rüden in Betracht zieht, sollte sich zumindest 100% sicher sein, warum der Hund aggressiv ist.
Kastrierte Rüden entwickeln „Ersatzbefriedigungen“
Ein Thema, das noch nicht oft zur Sprache gebracht wurde, das aber in einer Katastrophe enden kann sind die Ersatzbefriedigungen. Es gibt kastrierte Rüden, die sind tatsächlich nach der Kastration zuhause die reinsten Kuscheltiere, verträglich mit anderen Haustieren und weniger machohaft – dafür entwickeln sie Ersatzleidenschaften: beginnen zum Beispiel leidenschaftlich zu jagen, fressen jeden Dreck oder entwickeln sonst eine Marotte, die ihnen nur schwer bis gar nicht mehr auszutreiben ist. Im Extremfall haben Sie dann zuhause einen liebenswürdigen Hund, den sie draussen nicht mehr von der Leine lassen können.
Alternativen zur Kastration
Um Alternativen zu benennen muss man den Zweck der Kastration kennen: Verhinderung der Fortpflanzung? Dann sollte man eine Sterilisierung ins Auge fassen. Um Wesensveränderungen in den Griff zu bekommen ist – wenn Erziehungsmaßnahmen nichts fruchten – eine chemische Kastration eine Möglichkeit: Spritze bei den Hündinnen, Chip beim Rüden. Beide Varianten geben allerdings ebenfalls keinen 100% sicheren Ausblick auf die zukünftige Entwicklung des Tieres.
Fazit: Kastration als letzte Lösung
Man kann sicher nicht generell Kastrationen verdammen – aber die Kastration als Allheilmittel zu betrachten ist ebenso falsch. Genauso falsch meines Erachtens übrigens die Zwangskastration aller Tierheimtiere – Sterilisation wäre besser. Wir dürfen nicht vergessen, dass eine Kastration in den Hormonhaushalt des Tieres eingreift, ein unumkehrbarer Eingriff ist und zahlreiche Folgen haben kann, die zwischen nicht gewünscht und kontraproduktiv schwanken. Im Zweifel ist ein erzieherisches Einwirken eine Kastration vorzuziehen.
Wer sich selber noch weiter informieren will, dem sei das entsprechende Buch von Gabriele Niepel empfohlen. Und zwar herzlichst.