Erstens: Kaum fällt ein Hund aus der ihm zugedachten Rolle, wird mit der Präzision und der Voraussehbarkeit eines Pavlovschen Reflexes das Mantra „Es liegt immer am Menschen“ angestimmt . Mit diesem Killerargument wird mittlerweile jede Verhaltensweise und vor allem jede Verhaltensauffälligkeit eines Hundes begründet.
Zweitens: Kaum zeigt ein Hund ein etwas spezielles Verhalten, wird mit der Präzision und der Voraussehbarkeit eines Pavlovschen Reflexes das Mantra „Diese Hunderasse ist halt speziell“ angestimmt. Mit diesem Killerargument wird mittlerweile fast jede Verhaltensweise eines Hundes begründet.
Drittens: Dass sich die beiden Aussagen grundsätzlich widersprechen, scheint in den Diskussionsrunden kaum jemandem aufzufallen.
Hunde sind Individuen
Möglicherweise sind die individuellen Charakterzüge bei einem Hund etwas weniger ausgeprägt als beim Menschen – aber jeder Züchter der seine Welpen beobachtet kann im Verlaufe der 8 bis 12 Wochen sehen, dass die Hunde durchaus eigene Ausprägungen und Charakterzüge aufweisen: Der eine ist ruhig und abwartend, ein zweiter neugierig, ein dritter draufgängerisch. Diese charakterlichen Ausprägungen entstehen vollkommen unabhängig von menschlichem Einfluss. Ein draufgängerischer Hund wird höchstwahrscheinlich diese Eigenschaft während seines gesamten Lebens beibehalten – in unterschiedlichen Ausprägungen.
Es gibt Pöbler, Angsthasen und aggressive Hunde
Beim Angsthasen nicken die meisten noch zustimmend mit dem Kopf. Beim Pöbler sind es nicht mehr so viele und bei der Aggression hört es dann ganz auf: „Kein Hund wird aggressiv geboren – erst der Mensch macht ihn dazu.“ Quatsch! Wenn es unterschiedliche Charakterzüge gibt, warum sollte im Sortiment dann ausgerechnet die Aggressivität fehlen? Ja, es gibt Hunde die Zoff suchen, es gibt Hunde, die es ernst meinen, es gibt Hunde, die beschädigen wollen. Ist so. Da kann der Mensch erziehen wie er will, der Hund bleibt im Grundsatz so (genau so wie ein ängstlicher Hund immer etwas ängstlich bleiben wird). Erziehung, Ausbildung etc. können die charakterlichen Eigenschaften eines Hundes nicht löschen, sie können sie allerdings in – meistens – geordnete Bahnen lenken.
Rassen sind unterschiedlich
Wenn schon innerhalb eines Wurfes die Geschwister ungleiche Charakterausprägungen aufweisen, so ist das bei unterschiedlichen Rassen und deren Mischungen noch ausgeprägter: Es gibt nun einfach mal rassetypische Dispositionen, die unabhängig von jeglicher Sozialisierung und Erziehung bestehen bleiben – es gibt Hunde die stärker jagen als andere, es gibt Hunde, die schreckhafter sind als andere undsoweitrundsofort – und diese Eigenschaften sind durch Haltung abschwächbar, „handlebar“ aber nicht zu eliminieren. Glückliche Einzelfälle gibt es immer – es wird bestimmt auch irgendwo einen afghanischen Windhund geben, der gerne apportiert – ist dann halt aber ne Ausnahme welche die Regel bestätigt.
Angeboren, vererbt, anerzogen?
Das Verhalten des Hundes basiert auf drei Pfeilern: dem ererbten Verhaltensrepertoire (Disposition), dem Erlernten und der konkreten Situation. Zwei dieser Dinge kann der Halter beeinflussen – das erste nicht. Und das alleine müsste eigentlich reichen um zu begreifen, dass es eben nicht immer nur am Halter liegt – in vielen Fällen ja, aber nicht immer.
„Aggression ist nicht vererblich“ – diese Aussage ist mehr als nur mutig, denn: man weiß es schlicht und einfach noch nicht so genau. Wenn man von Aggressivität bei Hunden spricht, ist allerdings öfter die niedere Reizschwelle gemeint, bei deren Überschreitung Hunde „ausflippen“ und eben aggressiv (re)agieren. Die Höhe der Reizschwelle ist durchaus züchterisch beeinflussbar und damit vererbbar.
„Jeder Hund kann aggressiv gemacht werden“ – Ja. Generell kein Einwand – allerdings ist diese Argumentation völliger Blödsinn, denn nur weil ein Hund aggressiv gemacht werden KANN, heißt das ja nicht, dass ein anderer diese Veranlagung nicht auch in sich tragen KANN.
Die wesentlichen Charakterzüge eines Hundes (eines Tieres und Menschen generell) sind wohl angeboren – die Art und Weise, wie und in welchen Situationen diese „durchschlagen“ ist zum großen Teil durch Erziehung steuerbar. Aber eben nicht ganz. Kennen Sie einen jähzornigen, cholerischen Menschen? Woran liegt es? Ist er so (angeboren)? Oder haben die Eltern schuld?
Hunde sind komplex – einfache Antworten falsch
Es wäre so schön: Alle Hunde sind lieb, der Mensch macht sie böse! Und wie immer: wenn etwas zu schön klingt um wahr zu sein, dann ist es meistens auch nicht wahr – wir wollen es einfach nicht wahrhaben, dass unsere Hunde Eigenarten haben, die uns möglicherweise so überhaupt nicht passen. Charakterzüge, die uns – bei aller Liebe – manchmal Probleme bereiten oder nerven. Aber es ist nun einmal so – den perfekten Hund gibt es so wenig wie den perfekten Menschen. Es gibt nur Hunde die wir lieben – vielleicht wegen, aber ganz bestimmt trotz ihrer Macken und unangenehmen Verhaltensweisen.
Fazit
„Es kommt immer auf die Erziehung und Sozialsierung an, das sollte man langsam mal verstehen“ – Nein! Man sollte langsam mal verstehen, dass Hunde Individuen sind, die unterschiedliche Charakterzüge in unterschiedlicher Stärke aufweisen. Und man sollte verstehen, dass man diese Eigenschaften nicht so einfach weg-erziehen kann. Wer das behauptet wird dem Hund in seiner Gesamtheit schlicht nicht gerecht! Und den Hundehaltern, die sich ernsthaft mit ihren Hunden beschäftigen übrigens auch nicht.