
Vor einer Weile stand ich am Waldrand und durfte eine wunderbare Szene beobachten
Eine ältere Dame stand am Feldrand und sah ihrem Jack-Russel-Terrier dabei zu, wie er mit Begeisterung Mäuse jagte. Sie lächelte glücklich und hin und wieder blickte der Terrier mit dreckiger Nase auf und schien sie anzulachen.
Eine wunderbare Szene. Weil es so etwas Besonderes war, wollte ich es mit meinem Lieblingsnetzwerk teilen. Aber aus der lustigen Anekdote wurde eine Schlacht der Befürchtungen, Angriffe, Bildverzerrungen und vehementen Ermahnungen.
Merkwürdig
Ich glaube, dass wir hier ein wichtiges Phänomen erleben. Den Blick auf das Offensichtliche. Aber auch nur dafür. Zunächst scheint alles eindeutig zu sein. Aber jeder sieht etwas anderes in der vermeintlich deutlichen Szene. Jeder ist überlagert von persönlichen Erfahrungen, seinen Befürchtungen und eigenen Befindlichkeiten bis hin zu Eitelkeiten. Der Blickwinkel scheint zu verrutschen.
Einfach hineinlesen geht kaum noch. Vielleicht kann das auch nicht funktionieren?
Solange dabei ein Dialog entsteht, ist es ja gut. Schwierig wird es, wenn sofort auch Emotionen hinzu kommen. Bewertung kann produktiv sein, aber auch verunglimpfen. Der Mensch ist zu etwas in der Lage, was ihn tatsächlich zum einzigartigen Tier macht. Er besitzt vorausschauendes Denken!
Das würde bedeuten, er könnte erst beobachten, reflektieren, bewerten und dann antworten. Und dennoch ist das kaum möglich. Warum? Nehmen wir doch das aktuelle Beispiel mal unter die Lupe:
Nette alte Dame steht selig lächelnd am Feldrand, ihr Jack-Russel-Terrier buddelt nach Mäusen, zwischendurch schaut er lächelnd auf zu Frauchen, perfekte Idylle.
Alte Dame… wie alt? Seelig lächelnd… vielleicht dement? Oder sie pupst einfach? Oder sie pieselt gerade in die Windel, perfekt geruchsgesichert… wieso hat die eigentlich einen Terrier? Passt energetisch nu gar nicht… geht man in dem Alter noch in die Hundeschule? Der Terrier lächelt, ja klar…machen Hunde sowas überhaupt? Gab es dazu nicht mal eine Studie? Wie, der buddelt…also auch noch Löcher hinterlassen, damit der Nächste sich den Fuß verrenkt! Kurzsichtig diese Rentner und egoistisch…hinterlässt Löcher und zu Hause wird der junge Mieter angeblökt, weil der Vorgarten nicht perfekt aussieht, Hauptsache dem Köter gehts gut…und das arme Vieh kriegt gar keinen Auslauf, bloß am Feld darf er rumstehen, aus Verzweiflung würde ich auch buddeln…ist ja klar, bei so ner Alten…unterstützt auch noch die Unart und schnallt nix, kann mir vorstellen, wie das Hundi zu Hause die Bude zerlegt…und der Trainer darf es wieder richten! „Ich weiß gar nicht, wieso er das macht, ich hab ihn doch sooo lieb!“…ja klar, keine Ahnung von Hunden, aber der Jacki muss es sein. Geht nicht nen Goldfisch?…und jetzt frisst der die Maus auch noch!… erstaunlich genug, dass dieser degenerierte Kerl die Maus überhaupt fangen konnte. Tja, Instinkt halt..sehr triebig… Terrier eben… kennt man ja… aber die Maus war bestimmt vergiftet oder krank vom Pflanzenschutzmittel… oder sie bleibt dem armen Hund im Hals stecken, wegen der Knochen, kann der doch gar nicht mehr verdauen, wo er doch nur so ein Gelee-Dosen-Zeug und Leberwurststulle bekommt…man kennt doch die alten Leute, nur das Beste fürs Hundi.. .und irgendeine arme Socke darf sie dann zur Klinik fahren.. Bauch auf, Kosten, viel Gejaule..hätte ICH ihr gleich sagen können!
Erkennt sich jemand?
Ich erlöse mal die Zweifler. Passt gut auf!
Die Dame ist etwa 75 Jahre alt, hatte ihr Leben lang große Hunde, hat erfolgreich Airedaleterrier gezüchtet, wollte im Alter nicht auf Hunde verzichten und hat sich einen zweijährigen intakten Rüden von einem befreundeten Jack-Russel-Terreier-Züchter geholt, bei dem dieser Hund nicht decken wollte.
Ein introvertierter, geselliger, inzwischen fünfjähriger netter Kerl.
Die Dame ist superfit, walkt noch stramm und voller Begeisterung durch den Wald, „Krümel“ immer mit dabei. Sie kennt genau die Balance zwischen sozialem Kontakt, Disziplin, Bewegung, Zuneigung und Hund-sein-lassen. Das Feld ist von Mäusen untergraben und der Bauer freut sich über jedes Vieh, was ihm nicht die Ernte anfrisst. Der Feldrand wird nicht betreten, die Unfallgefahr ist nur für zu langsame Mäuse zu hoch, „Krümel “ ist nämlich spitze. Er frisst die Mäuse immer ganz, wird gebarft und verträgt das. Der Bauer hat selber Jagdhunde und spritzt nicht, sondern düngt nur.
Die Dame lächelt seelig, weil sie so glücklich ist, dass sie diese Momente noch so genießen kann. Andere in ihrem Alter haben einen Rollator. Der Hund lächelt, ja, denn das ist gelebte und unschlagbar sichtbare Empathie!
Am Ende bleibt eine wunderschöne Szene am Feldrand und ich denke, hoffentlich werde ich auch so sein, wenn ich alt bin. Ich wünsche uns allen die Fähigkeit, die Dinge hinter dem Offensichtlichen zu sehen, unsere Umwelt mit Achtsamkeit zu betrachten – kontern wo nötig und freuen wo möglich.
Aber auch immer mit Respekt und einem Augenzwinkern.
Bild: Bigstockphoto