
Als ich erwachte, lag ich auf einer Decke in einem warmen, hellen Raum, der nach anderen Hunden roch, ich war aber alleine. Die Wunde schmerzte ein wenig, aber nicht sehr – da war ich anderes gewohnt. Erst später habe ich erfahren, dass ich kastriert worden war und dass ich jetzt ein Tierheimhund bin. Ein gefüllter Wassernapf mit sauberem (!) Wasser stand neben mir und auch eine Schüssel mit etwas Essbarem drin. Die Leute hier nennen es Trockenfutter, aber das habe ich auch erst später erfahren – es gibt auch Nassfutter. Was es nicht gibt sind Essensreste, Ratten, Mäuse, Vögel etc.
Nach zwei Tagen als die Wunde schon fast verheilt war, wurde ich aus dem Zimmer ins Freie gebracht – hier waren Dutzende, fast Hunderte andere Hunde. Ich kannte keinen – eine sehr unangenehme Situation. Ich brauchte Tage, Wochen um herauszufinden, wer was wann wo zu sagen hat und trotz aller Mühe ist es mir nie ganz gelungen, denn ständig kommen neue Hunde dazu und alles geht wieder von vorne los. Obwohl ich es gewohnt war, mit Artgenossen umzugehen, kommt es hier ständig zu Reibereien – nichts Ernsthaftes, aber es ist halt dauernder Stress.
Ich war ein Straßenköter
Damals, als ich noch nicht hier war – sie nennen es „Tierheim“ und „Rettungsstation“ – lebte ich in einer mittelgroßen Stadt – ich war das, was man gemeinhin einen Straßenköter nennt. Ich wurde auf der Straße geboren – na ja, in einem Kellerloch, ich wuchs auf der Straße auf, ich paarte und stritt mich auf der Straße. Ich lebte vier Jahre lang in einem Rudel bis ich gerettet wurde. Manchmal, wenn ich hier so auf dem Boden liege, frage ich mich, wovor ich gerettet worden bin. Die Menschen hier sind nett zu mir, seit zwei Jahren bin ich hier, und noch nie wurde ich getreten oder geschlagen – ich werde sogar manchmal gestreichelt. Das ist gut, aber um ehrlich zu sein, so oft wurde ich früher auch nicht getreten.
Ich kann mich noch erinnern, an mein Rudel – wir zogen durch die Stadt auf der Suche nach Fressbarem. Nein, es war wirklich nicht immer leicht. Ständig waren wir unterwegs – wir mussten jeden Tag ums Überleben kämpfen und das ist nicht nur so daher gesagt. Wir mussten Nahrung suchen. Manchmal fanden wir zwei, manchmal sogar drei Tage lang nichts Vernünftiges. Meistens aber schon. Essensreste zum Beispiel, wir fraßen auch Ratten, tote Vögel, überfahrene Kaninchen – einfach alles, was wir kriegen konnten. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, ob das gesund ist – wir haben gefressen, was wir kriegen konnten und wenn wir nichts fanden, hatten wir Hunger.
Heute bin ich gesund
Heute krieg ich jeden Tag Futter – Anfangs hatte ich schlimme Bauchschmerzen und Durchfall von dem komischen Futter, aber mittlerweile hab ich mich dran gewöhnt. Außer daran, dass man hier fressen muss wie ein Wilder damit es einem niemand klaut. Das war früher anders, im Rudel wusste jeder genau, wann er an der Reihe ist – hier schlingt man runter so schnell es geht, bevor einer kommt, der einen vom Napf vertreibt. Für einen Tierheimhund sei das ganz normal, sagt man.
Flöhe hab ich auch keine mehr, Zecken auch nicht und mein Fell ist so sauber wie schon lange nicht mehr – Würmer hab ich auch keine und der Zahn, der mich immer wieder schmerzte ist auch gezogen. Und eben: kastriert bin ich auch, warum auch immer – gesundheitlich geht es mir eigentlich sehr gut. Das war früher auch nicht immer so: Im Rudel herrschte zwar meistens Ordnung aber das Leben war nicht ohne Risiko. Manchmal kam es zu ordentlichen Keilereien, wenn wir auf ein anderes Rudel stießen, und auf der Suche nach Nahrung oder einem Unterschlupf konnte man sich schon mal ziemlich böse verletzen – ich habe im Laufe der Jahre einen Drittel meiner Rute und ein halbes Ohr verloren und das Fell unter meinem Auge wächst auch nicht mehr nach. Das war nicht schön und es brauchte lange, bis das alles wieder verheilt war – von den kleineren Verletzungen wie Schnitte, kleinere Bisse etc. will ich gar nicht reden. Aber die gibt es hier auch – nur selten etwas Ernstes, mal ein Biss, wenn man sich zu sehr auf die Pelle rückt – ich habe gelernt, abzuschätzen, wenn man streiten muss und dass es besser (und vor allem gesünder) ist, sich aus dem Weg zu gehen. Früher konnte ich das – aber hier nicht, wenn ich einem aus dem Weg gehe, hab ich sicher mit dem anderen Ärger, weil ich ihm zu nahe komme. Deshalb schepperts eigentlich mehr als früher.
Früher musste ich ums Überleben kämpfen
Damals gehörte die Stadt uns, wir hatten ein klar abgestecktes Revier und zogen mehr oder weniger systematisch umher um es zu sichern. Eindringlinge wurden vertrieben und wenn wir irgendwo hingingen wo wir nicht hingehörten, kriegten wir ordentlich Ärger. Aber wir konnten uns aus dem Weg gehen – wir hatten Platz um den Rückzug anzutreten, um auszuweichen und um zu fliehen, wenn es wirklich ernst wurde. Hab ich hier nicht. Keinen Meter – hier stehen wir uns gegenseitig auf den Pfoten rum. Das stresst ohne Ende, einige fangen schon an, Macken zu entwickeln – fangen irgendwelche Fliegen die es nicht gibt, kratzen sich ohne Ende obwohl sie keine Flöhe haben oder drehen sich im Kreis oder rennen zum Zaun und kläffen, kaum bewegt sich was – aus lauter Langeweile.
Langeweile – das hab ich auch erst als Tierheimhund gelernt. Das kannte ich früher alles nicht – der Tag war ausgefüllt mit der Suche nach Fressen, einer Unterkunft, mit dem Pflegen kleinerer Wunden, der Sicherung des Revieres und mit dem Streit um die Mädels, wenn wieder mal eine läufig war. Ständig war was los – ständig mussten wir auf der Hut sein, oft waren wir auf der Flucht, manchmal aber lagen wir auch einfach nur da und ruhten uns aus. Langweilig war es jedenfalls nie. Ich habe heute erst erfahren, wie die Menschen das nennen: Jawohl, wir waren ausgelastet. Körperlich und geistig. Das bin ich hier nicht – gar nicht. Weder körperlich noch geistig. Ich habe nichts zu tun, muss mich um nichts kümmern und kriege doch ständig Stress, weil wir immer mehr werden bei immer gleich wenig Platz.
Im Sommer ist es hier heiß, im Winter ist es kalt – das war früher natürlich auch schon so. Aber irgendwie war´s doch anders: im Sommer waren wir oft auf der Suche nach einem Keller, oder etwas ähnlichem wo wir den heißen Tag verschlafen konnten. Oft fanden wir etwas, manchmal wurden wir vertrieben und hin und wieder kriegten wir von den Menschen auch Prügel, wenn wir nicht schnell genug waren. Die Winter waren auch nicht leicht – ein halbwegs warmes Plätzchen zu finden, war nicht einfach und einige von uns haben den Winter nicht überlebt. Gerade wenn einer verletzt war, nicht genügend zu fressen bekam – ja, dann konnte es sein, dass er starb. Das war nicht schön und bei mir war es auch einige Male nahe dran, dass ich – nun ja, sagen wir es wie es ist – fast verreckte. Da wünschte ich mir manchmal ein einfacheres Leben. Das hab ich jetzt – oder auch nicht. Erfrieren wird bei uns keiner, aber im Sommer findet man auch kaum eine kühle Stelle. Die paar Hütten und das Dach, das sie uns netterweise gebastelt haben helfen nur sehr bedingt.
Als Tierheimhund ist alles anders
Ich habe früher immer mit Hunden gelebt. Menschen ging ich meistens aus dem Weg – Erfahrung. Wir waren Konkurrenten in vielen Dingen, da ist es besser, sich nicht alll zu sehr mit denen einzulassen. Trotzdem war ich in einem stabilen sozialen Umfeld. Stabiler jedenfalls als das aktuelle wo sich ständig die Zusammensetzung ändern, einer kommt dazu, dann geht wieder einer… Sie sagen hier, es sei das Ziel, mich zu einer Familie zu vermitteln, damit ich wieder ein kleines Rudel habe mit Herrchen und/oder Frauchen, wie sie das nennen. Es werden auch immer wieder welche von uns abgeholt und zu ihren neuen Familien geschickt. Aber ehrlich: das sind alles Hunde, die anders sind als ich. Ich hab schon begriffen, dass auch die größten Tierschützer, die unbedingt einen Hund retten möchten, lieber einen mit vollständiger Rute und mit zwei ganzen Ohren haben – Äußerlichkeiten scheinen auch bei Menschen mit einem „Herz für Tiere“ wie sie es nennen sehr wichtig zu sein.
Ob es mir gut geht? Nicht so sehr. Ob ich glücklich bin? Nein. Ob ich früher glücklich war? Weiß ich nicht. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, ich musste (über)leben – ich war ein Hund. Ich habe das gemacht, was Hunde tun: Im Rudel gelebt, mich ums Fressen, ums Revier und um die Jungen im Rudel gekümmert. Wir haben uns gestritten, verletzt, wir haben zusammen gejagt. Manchmal ist einer von uns gestorben, manchmal auch getötet worden. Das alles muss ich jetzt nicht mehr. Ich kann es aber auch nicht mehr. Ich kann nur da stehen, da sitzen und warten – inmitten einer Vielzahl von Hunden, mit denen ich nicht freiwillig zusammen bin, denen ich nicht ausweichen kann. Früher hatte ich manchmal Stress, weil das Leben gefährlich war – heute hab ich Stress, weil ich nicht ausweichen kann… nein, glücklich bin ich nicht. Aber zurück kann ich auch nicht – ich bin seit 2 Jahren hier und ich werde hier bleiben und wohl auch sterben, denn die Tierschützer werden mich niemals mehr rauslassen – sie meinen es gut, aber ich glaube, früher war es besser. Zumindest war es nicht schlimmer. Anders, ja – aber wenn ich wählen könnte…
Gut gemeint ist nicht gut gemacht
Hin und wieder erscheint in den Anzeigen der Tierschützer und in den sozialen Netzwerken ein dringender Aufruf. Da steht dann, dass einer von uns Tierheimhunden schon so lange im Heim sei und sich nun aufgegeben habe – dass er nur noch da sitze und auf das Ende wartet. Ich kenne das. Und manchmal frage ich mich, wovor haben die uns eigentlich gerettet? Aufgegeben hat sich keiner von uns, damals, „draußen“, als offenbar noch alles schlecht war. Ich weiß, sie meinen es gut mit uns – aber ich kann nichts Gutes daran finden, wildfremde Hunde zusammen zu pferchen und uns so zu halten, dass einigen von uns nichts anderes übrig bleibt, als sich aufzugeben – vor lauter Hoffnungslosigkeit. Menschen nennen das heute das „Bore-out-Syndrom“ und das ist echt schlimm.
Ja, sie sagen, jeder Hund hätte eine Chance auf ein besseres Leben verdient – damit haben sie natürlich recht. Unter uns: Ich hatte früher ein besseres Leben – aber die Chance darauf hab ich nicht mehr. Nur: Als ich herkam – Quatsch – als ich hergebracht wurde, waren hier 50 Tierheimhunde und jedes Jahr wurden 25 von uns vermittelt. Die Chance lag bei 1 zu 2. Heute – bei doppelt so viel Platz – sind hier 350 Hunde und immer noch werden jedes Jahr 25 von uns vermittelt, vielleicht 30. Die Chance ist jetzt 1 zu 11. Noch immer hat jeder eine Chance, aber die hat man beim Lottospielen ja auch…
Rettet die Richtigen. Und weniger. Bitte!
Ja, ich weiß auch, dass es Hunde gibt, da war es richtig und gut, sie aus dem früheren Leben zu holen. Hunde die gequält wurden, geschlagen, angezündet, verstümmelt, die halb oder dreiviertel verhungert waren. Denen hat man das Leben gerettet und das ist nett und gut gemeint und in vielen Fällen auch richtig. Trotz allem – mir wäre es lieber – wenn nur diese Hunde hier wären. Diejenigen, die nicht in Freiheit lebten und „Hund waren“. Dann wären hier vielleicht 70, 80 Hunde und die Chance auf eine Familie wäre wieder so groß wie vor zwei Jahren. Und alle anderen, so wie ich, könnten weiter unser anstrengendes, gefährliches, riskantes Leben führen, das wir hatten. Aber wir wären glücklicher. Und wir wären vor allem noch richtige Hunde und keiner von uns müsste sich aufgeben…
(Anmerkung: Tierschutz ist wichtig und sollte unterstützt werden. Wir schätzen die Arbeit von Tierschützern sehr - wenn sie denn zu Gunsten der Tiere ausfällt. Wir wehren uns aber explizit gegen "Massentierschutz" wo auf Teufel komm raus Hunde oder andere Tiere eingesammelt werden und in engsten Verhältnissen den Rest ihres Lebens verbringen müssen - bis auf die wenigen, die vermittelt werden. Es gibt genügend Hunde, die wirklich gerettet werden müssen, oder die zumindest aus ihrer fatalen Situation erlöst werden sollten - aber es gibt auch unzählige Hunde, die besser dran sind, wenn sie nicht gerettet werden.)
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