Der Begriff „Inzucht“ lässt bei vielen Hundebesitzern ein Schaudern aufkommen – und auch Hundezüchter reagieren äußerst emotional auf den Begriff. Kein Wunder, ist „Inzucht“ doch mehr als nur negativ besetzt – allerdings zu Unrecht, denn oft wird „Inzucht“ mit „Inzest“ verwechselt. Obwohl beide Begriffe nur am äußersten Rand etwas gemeinsam haben.
Was ist Zucht überhaupt?
Vereinfacht gesagt ist Zucht nichts anderes, als die Verpaarung von Hunden mit dem Ziel, Nachkommen zu erzeugen, die bestimmten Vorstellungen in Bezug auf Optik, Wesen und Fähigkeiten entsprechen. Zucht unterscheidet sich also elementar von ungezielter Vermehrung bzw. Paarung wie sie in der freien Natur vorkommt. Züchten ist immer ein gezielter Eingriff des Menschen in den Genpool des Hundes.
Die Anfänge der Zucht reichen deshalb auch weit zurück: während sich die Hunde noch vor ein paar hundert Jahren mehr oder weniger wild verpaarten und es eine entsprechend hohe Vielfalt von Mischlingen gab, merkte der Mensch relativ schnell, dass der eine oder andere Hund für bestimmte Dinge besonders geeignet war. Auch ohne genetische oder vererbungstechnische Kenntnisse war klar: Wenn ich zwei Hunde, die „gut“ sind, miteinander verpaare, dann steigt die Chance, dass die Nachfolger ebenfalls „gut“ werden. Die bedarfsgerechte Zucht war geboren – am ehesten vergleichbar mit der so genannten Linienzucht wie sie heute noch teilweise bei reinen Arbeitshunden vorkommt oder bis vor kurzem vorkam (z.B. bei Boerboels in Südafrika, bei Catahoulas und anderen reinen Arbeitshunden). Bei der Linienzucht wird immer wieder auf einen bestimmten Hund zurückgegriffen, der besonders erwünschte Merkmale aufweist. Nebenbei bemerkt: Fast alle heutigen Rassen gehen auf diese Art von Zucht zurück – fast alle Rassen besitzen einen „Urvater“ oder eine „Urmutter“, die immer wieder zur Zucht eingesetzt wurde.
Zucht – Vorteile und Nachteile sind untrennbar verbunden
Grundsätzlich hat jede gezielte Zucht aus einer bedarfsbasierten Sicht Vor- und Nachteile. Die Vorteile liegen darin, dass eben gewünschte Eigenschaften gezielt weitervererbt werden können, dass die Nachkommen „berechenbar“ werden. Eine gefestigte Rasse wird (von ein paar durchgeknallten Ausnahmen mal abgesehen) keine Ausreißer produzieren: Ein Labrador wird sich so verhalten wie ein Labrador, ein Herdenschutzhund wie ein Herdenschutzhund und ein Windhund wie ein Windhund. Punkt. Da kann man noch so daran rumerziehen, die vererbten Eigenschaften sind genauso festgeschrieben wie die optischen. Entsprechend sind Hunde disponiert und reagieren in bestimmten Situationen auch rassetypisch.
Und es ist durchaus ein Vorteil, wenn man weiß, wie ein Hund „tickt“ – man stelle sich nur vor, ein Großpudel würde sich wie ein Herdenschutzhund verhalten oder ein Windhund wie ein Labrador – oder noch schlimmer: Ein Labrador wie ein Windhund. Diese genetischen Verhaltensmuster führen auch das Argument ad absurdum, dass es „immer auf den Halter ankommt, wie sich ein Hund verhält“. Das ist natürlich ausgemachter Blödsinn – es kommt auf den Halter darauf an, wie ein Hund mit seinen angeborenen Fähigkeiten und Verhaltensmustern umgeht – er wird sie aber niemals ganz abstreifen können.
Nachteile der Zucht – wir wissen noch immer zu wenig
Wenn wir vom Phänotyp – also vom sichtbaren Teil des Hundes – sprechen, dann ist der Zuchterfolg offensichtlich: Rassehunde sehen alle in etwa gleich oder zumindest ähnlich aus. Ein Nachteil: die so genannte Qualzucht: Durch züchterische Selektion lassen sich bei Möpsen die Nasen weg-, bei Shar Peis die Falten heranzüchten. Man nimmt „ganz einfach“ zwei Hunde, die sowieso schon besonders ausgeprägte Merkmale haben, verpaart diese und voilà – schon wird’s noch deutlicher. Sprich: Schlimmer.
Ganz anders sieht es aus, wenn wir das Wesen des Hundes ansehen. Das Verhalten ist ebenfalls zum Teil genetisch festgelegt, aber deutlich weniger erforscht als die sichtbaren Merkmale. Neueste Untersuchungen zeigen sogar auf, dass erlerntes Verhalten Eingang in den Genpool findet – allerdings steht die Forschung hier noch ziemlich am Anfang. Als „Beweis“ können im vorerst nur Beobachtungen herangezogen werden: So scheint es klar, dass wesensschwache Hunde diese Schwäche auch weitervererben, und es scheint so, als wenn „importierte Hunde“ (vorzugsweise aus südlichen Ländern) ihren Nachkommen die höchstwahrscheinlich erlernte Ängstlichkeit tatsächlich vererben würden.
Der Genpool des Hundes ist eine Wundertüte
Natürlich sind einige grundlegende Mechanismen der Vererbungslehre und des Genpools der Hunde entschlüsselt – und verantwortungsvolle Züchter (leider auch die anderen) können ziemlich genau planen, wie ein Wurf aussehen soll und welche Eigenschaften die Hunde haben werden. Aber alle Eventualitäten lassen sich nach wie vor nicht ausschließen. Schuld daran ist nicht nur, dass wir nach wie vor das hündische Genom nicht vollständig entschlüsselt haben sondern auch, dass die Varianten in der Zucht so vielfältig sind, dass sich eben immer auch unerwünschte Kombinationen ergeben.
Inzucht bei Hunden – was heißt das nun?
Unter Inzucht versteht man die Verpaarung von zwei Tieren, die näher miteinander verwandt sind, als zwei zufällig aus der Population herausgegriffene Tiere (Definition: Irene Sommerfeld-Stur). Es handelt sich bei der Inzucht also keinesfalls um Inzestzucht (hier werden Verwandte ersten Grades, also Vater-Tochter o.ä. miteinander verpart).
Inzucht stärkt und fördert also die Merkmalsausprägungen – oder etwas wissenschaftlicher formuliert: Die Inzucht steigert den Anteil an homozygoten Genen (so genannten reinerbigen Genen). Das führt eben dazu, dass die Hunde immer einheitlicher werden. Die Kehrseite der Medaille ist: Wenn auf der einen Seite die reinerbigen Gene ansteigen, verschwinden auf der anderen Seite die anderen Gene – weil die Summe ja immer gleich bleibt. Oder vereinfacht: die genetische Vielfalt der Rasse sinkt, die Tiere haben weniger unterschiedliche Gene zur Verfügung. Auf der einen Seite werden die Hunde somit stabiler, auf der anderen Seite führt eine Verarmung der Gene immer auch zu einer höheren Empfindlichkeit gegenüber neuen, äußeren Einflüssen. Ganz banal und sehr vereinfacht kann man das mit Monokultur und Mischkultur erklären: Ein reiner Buchenwald sieht zwar einheitlich aus, ist in sich auch stabil, kann aber durch einen einzigen Schädling vollkommen zerstört werden, während ein Mischwald nur leichtere Schäden davontragen würde, die er im Verlaufe der Zeit auch selbst wieder reparieren kann.
Inzuchtniveau – wenn man nur wüsste, welche Gene wichtig sind
Das Inzuchtniveau steigt, je weniger Zuchtpartner zur Verfügung stehen. Die Folge des immer kleiner werdenden Genpools ist neben der immer einheitlicheren Rasse eben auch, dass sich unerwünschte Gene als Rasse bildend herauskristallisieren – leider tun diese Gene das nicht von jetzt auf gleich, sondern schleichen sich erst in die Rasse ein ohne Schaden anzurichten (man spricht von rezessiv) bis sie dann homozygot, eben rassenbildend, werden und sichtbare Veränderungen nach sich ziehen. Besonders häufig zeigen sich dann Autoimmunkrankheiten. Hier gilt wieder das Muster des Mischwaldes: Der Hundeorganismus ist durchaus in der Lage, „schädliche“ Gene „stillzulegen“ – solange bis sie überhand nehmen und dann ihre volle Wirkung entfalten.
Der Vorteil: man könnte – könnte (!) – bei einigen Genen wissen, dass sie zu Problemen führen und die Zucht entsprechend lenken. Das wiederum würde allerdings, und da liegt die Krux, zu einer noch höheren Inzuchtquote führen. Noch schlimmer ist allerdings, dass diese „schädlichen“ Gene plötzlich zu erwünschten Genen umfirmiert werden: Besonders deutlich wird dies bei der so genannten Farbzucht in der Farb bildende Gene gezielt vererbt werden obwohl man weiß, dass damit gesundheitliche Probleme einhergehen können (oder sogar müssen): besonders typisch hierfür sind „Merle“-farbige Hunde, „blaue“ Hunde, neu auch die „Silver Labradors“ und auch die ganz hellen Hunde, allen voran der „Berger Suisse“. Warum das gleiche Gen, das den Dobermann krank macht, dem Weimaraner offenbar nichts ausmacht ist ebenfalls noch nicht erforscht – aktuell geht man davon aus, dass es sich um ein anderes Gen handeln könnte.
Ein kleiner Genpool – immer eine Gefahr für eine Hunderasse
Es gibt einige Hunderassen, die mit ihrem dünnen Genpool mittel- bis langfristig einem deutlich höheren Risiko ausgesetzt sind, sich selbst „auszulöschen“. Wie immer gibt es zwei Ansichten und wie so oft haben beide Seiten durchaus vertretbare Argumente auf ihrer Seite: So wird dem Nova Scotia Duck Tolling Retriever von Irene Sommerfeld-Stur aufgrund seines kleinen Genpools Qualzucht attestiert, auf der anderen Seite stellt man fest, dass – wir verlassen kurz die Hunde – die Islandpferde zwar seit mehr als 1000 Jahren kein frisches Blut oder Gen bekommen haben, aber kerngesund sind. Das kann allerdings auch an den Lebensbedingungen liegen, die einen allfälligen „Defekt“ gleich gnadenlos ausmerzen, während wir auch kranke Hunde dank der Veterinärmedizin locker über die ersten Jahre bringen und womöglich noch zur Zucht zulassen können.
Sind Rassehunde krank und Mischlinge gesund?
Natürlich nicht. Es gibt ja keinen Mischling, der nicht von Rassehunden abstammt – wenn auch manchmal über mehrere Generationen. Die Behauptung, Mischlinge seien generell gesünder ist vollkommener Quatsch, denn die „Gesundheit“ entsteht durch die Vererbung: sind die Eltern gesund, ist auch der Nachwuchs gesund – sind zwei Rassehunde krank, wird auch der Mischlingsnachkomme nicht gesund werden. Was die Mischlinge aber den Rassehunden in geringem Maße voraushaben ist die genetische Vielfalt – es kann (!) sein, dass sie gegen einige Einflüsse weniger anfällig sind – es kann aber auch sein, dass eine unglückliche Verpaarung genau das Gegenteil bewirkt. Auf der anderen Seite der Medaille steht dafür, dass man nicht wissen kann, welche Eigenschaften sind in einem Mischling vereinigen.
Insofern spricht nur die Anforderung des Hundehalters für oder gegen einen Rassehund – wobei wir wieder bei den Anfängen der Zucht wären: beim bedarfsgerechten Hund.
Bilder: Bigstockphoto